eraser
(Autistenbereich)

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Ich überlege gerade, warum ich mich mit Wurstpellenfrauen identifiziere und es kann daran liegen, dass ich in meiner Kindheit, als gerade enge Röhrenhosen modern waren, etwas übergewichtig war.
Das mit dem Respekt vor Schreiberlingen ist es nicht, wir kennen uns schon lange, es ist eher so, dass sie mich für klug hält und sich für dumm.
Ich habe ihr schon erklärt, dass ich nur in Teilbereichen sehr intelligent bin und in anderen eher dümmer als die Polizei erlaubt, aber das kam nicht an.
Natürlich liebe ich diese Frau, man muss sie wegen ihrer Liebenswürdigkeit lieben. Sie ist so lieb, dass es eine Tragödie ist.
Ach was, eine Behinderung! Sie kann sich überhaupt nicht gegen die "böse Welt" wehren, alle nutzen sie aus und trampeln auf ihr rum, missverstehen sie und fühlen sich bedroht von dieser universellen Liebheit, die sie ausstrahlt. Naivität auch.
Unsere "WG" ist eine Zweckgemeinschaft. Sie wäscht aber gern ab und redet pro Tag etwa drei Worte und ich schätze ihre unaufdringliche Gegenwart und Häuslichkeit.
Das Essen teilen wir, den Tabak auch, manchmal reden wir.
Sie wohnt seit November bei mir, weil man in ihrer Wohnung nicht wohnen kann. Sie hat ihre Stromrechnung nicht bezahlt, weil ein Arbeitgeber, den das Job- Center ihr vermittelt hatte, sie nicht bezahlt hat und sie kriegt es seit einem Jahr nicht auf die Reihe, das zu regeln. Ich kann ihr auch nicht helfen, sie muss nur einen einzigen Brief schreiben.
Vielleicht sollte ich einfach diesen Brief schreiben und abschicken.
In den Arm nehmen geht nicht, ich mag das nicht und sie auch nicht.
Ihren Horizont habe ich schon drastisch erweitert durch die Anwesenheit meines Bücherregals. Mit dem Reden ist es sehr schwer. Manchmal ist es so, als ob nichts zu ihr durchdringt. Sie spielt den ganzen Tag Solitär auf meinem alten Rechner.
Ich kann nicht ehrlich zu ihr sein, ich habe das mit der Farbe an der Tapete angesprochen und ich weiß nicht mal, ob sie denkt, dass ich sauer bin (ich bin sauer) oder ob es ihr völlig egal ist.
Sie fragt mich jeden verdammten Tag, ob es O.K. ist, dass sie da ist und ich sage jeden Tag, dass ich sie raus schmeiße, wenn sie noch mal fragt und sie fragt trotzdem jeden Tag.
Langsam frage ich mich, ob sie nicht genau so autistisch ist wie ich aber woher soll ich das wissen?
Nicht mal darüber kann man mit ihr reden. Sie weiß nichts von meiner Diagnose oder sie vergisst es immer wieder, denn ich hatte es schon mal gesagt und als dann ein anderer Autist da war, wusste sie nicht, was das genau ist.
Ich hatte auch vorher mal versucht, herauszufinden, was sie über nonverbale Kommunikation denkt und hatte das Gefühl, dass sie nicht weiß, wovon ich spreche. Aber was ist schon ein Gefühl?
Ihr bisheriges Leben mit den grundsätzlich falschen Männern zeigt auch, dass sie noch weniger Menschenkenntnis hat als ich.
Sie kann sich sehr gut Gedichte merken und manchmal sagt sie eins auf.
Eigentlich kann man sie nicht anlügen, also ich kann das nicht, ich kann nur Dinge verschweigen.
Alles, was ich hier schreibe, könnte ich ihr nicht sagen. Vielleicht rede ich nicht mit ihr, weil ich ihr lauter Dinge sagen müsste, die sie verletzen könnten. Vielleicht verletzt es sie aber mehr, dass ich nicht mit ihr reden kann, außer über "Wir brauchen Brot und Milch ist auch alle." Hoffentlich denkt sie nicht, dass ich nicht mit ihr rede, weil ich sie für dumm halte.
Ist Schweigen höflich? Macht es Sinn, sich für Dinge zu entschuldigen, die man nicht ändern kann?
LGE
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