Ist Autistsein ein Trend?
21.01.10, 14:40:21
blue_eye
Gibt es nicht eventuell sogar eine Menge 'Autisten' mit unterschiedlich vielen autistischen Merkmalen/Eigenschaften/Verhaltensweisen, die sich gar nicht als Autisten einordnen (wollen)?
Menschen, die einfach Folgendes denken:
'Ok, ich hab vielleicht hier und da ne Macke und bin nun mal in einigen Bereichen komplett anders, als der Normalo.
Mag sein, dass ich so bin, wie sich hier in den Beiträgen Autisten beschreiben.
Ich kann einige Dinge, die andere nicht können überdurchschnittlich gut (z.B. alles, was mit Zahlen zu tun hat, strukturieren, organisieren) und dafür kann ich anderes eben nicht (z.B. schön formulieren/schreiben, Gefühle zeigen oder darüber reden).
Autist ist für mich eine Schublade, in die ich mich nicht einsortiere. Wenn andere das tun und sich da wohlfühlen, sollen sie es tun.
Für mich ist das nur ein Trend der heutigen Zeit. Es gab schon immer anders gestrickte 'Problem-Menschen'.
Früher benutzte man nur das Wort 'Autist' nicht und lies sie einfach 'komisch' sein.
Ich muss diesen Trend nicht mitmachen.
Ich wurschtle mich seit je her so durch mein recht bescheidenes Leben. Ich habe keine großen Wünsche oder Zukunftspläne.
Ich muss auch nicht ständig darüber nachdenken, wer und was ich bin. Das lenkt nur von meinen Aufgaben ab und raubt Zeit.
Ich spüre gar keinen Drang darüber nachzudenken. Ein Tag ist ein Tag. Es ist, wie es ist und so nehme ich es und mache das Beste daraus. Fertig aus!'
(Diese Worte vernahm ich in etwa dieser Tage von meiner Freundin)
21.01.10, 15:21:47
feder
geändert von: feder - 21.01.10, 15:25:05
Autismus spielt bei mir irl eine sehr untergeordnete Rolle. Ich denke da nicht ständig darüber nach, wer ich bin und inwiefern ich mich von meiner Umgebung unterscheide. Das würde mir nämlich tatsächlich Energie und Zeit rauben. Wäre mir nicht gesagt worden, ich sei autistisch, wäre mir das wohl nicht einfach so von alleine aufgefallen. Wichtig an diesem Forum ist für mich insbesondere der Austausch über das eigene Erleben, auch um mir immer wieder vergegenwärtigen zu können, dass dieses Erleben nicht falsch/sonstwas ist, nur weil es in meiner Umgebung sonst kaum jemand so erlebt und es deswegen mitunter als falsch/nur eingebildet/... dargestellt wird.
Wenn deine Freundin der Meinung ist, keinen Austausch mit ähnlich veranlagten Menschen zu brauchen, dann ist das doch ok. Ich gehe an sich davon aus, dass sie wohl nicht die Einzige ist, die das so sieht (evtl auch wegen falscher Annahmen über Autismus als Behinderung/Krankheit? - Wer stuft sich schon selber als behindert ein, wenn er sich an sich normal fühlt?)
21.01.10, 17:55:32
Fundevogel
Ich denke, dass "Sich-zum-Autismus-bekennen" Trend werden sollte und sehe das als beidseitige Möglichkeit (A und NA), langfristig zu Selbstverständnis und Akzeptanz zu gelangen. Dazu könnten ganz besonders diejenigen Autisten beitragen, die eine gesellschaftliche Position erlangt haben, aber zu ihrem Autismus und zu der Thematik bisher schweigen. Gerade sie könnten in der öffentlichen Diskussion einen wichtigen Beitrag leisten, die Barrieren abzubauen. Nicole Schuster und andere Autisten haben im Aachener Raum durch ihre Auftritte die Thematik ins Tagesgeschehen gerückt. Wenngleich die Befragenden sich immer noch aus Unkenntnis des "Leidens-Vokabulars" bedienen, sie sind lernfähig;)! Ich beglückwünsche deshalb ausdrücklich drvaust zu seiner Entscheidung, als Autist auftreten zu wollen.
Forthebeautyoftheearth
22.01.10, 09:04:13
Mama
Ich denke, Autisten müssen erst etwas Einzigartiges, Weltbewegendes leisten, damit sie geachtet werden oder zumindest toleriert. Momentan scheint mir eher das Interesse an Autisten größer zu sein, nicht das Verständnis. Ich halte so Auftritte wie Nicole Schuster diese macht, nicht unbedingt für Vorteilhaft. Dadurch werden Autisten, die nicht kommunizieren können, dieses nie lernen, an den Rand gestellt. Desweiteren wird vielleicht irgendwann die Frage der Finanzierung in Frage gestellt unter dem Motto "so krank sind die doch gar nicht!".
Die Aufklärung muß anders erfolgen. Wie?
22.01.10, 17:36:21
Hans
Der Ansatz ist doch gar nicht schlecht,
wenn es heißt, "so krank sind die doch gar nicht"
so ergibt sich die als Nächstes die Frage,
"was kann man mit ihnen anfangen?"
Im Übrigen bin ich auch dafür,
daß sich die Autisten, die sich in der Gesellschaft bewegen
dazu beitragen, die Ausgeschlossenen verstehen zu helfen.
22.01.10, 22:48:04
Fundevogel
@mama: Es ist ein hoher Anspruch, dass Autisten verstanden werden. Bis dahin ist ein weiter Weg. Jetzt kann man aber dazu beitragen, dass Autismus in der Gesellschaft der NA nicht "tot geschwiegen", "verarztet" oder mangels Kenntnis und Einfühlungsvermögen nicht wahrgenommen wird.
Man kann über die Methoden diskutieren. Fakt aber ist, dass das Wecken von Interesse und erfolgreiche Herausstellen eines Themas oder einer Sache durch bekannte Mechanismen geschieht. Viele Werbeagenturen beherrschen dieses Geschäft.
Ich kann mir im öffentlichen Bereich vorstellen, dass irgendwann die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine Aufklärungs-Kampagne im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums gestaltet.
Öffentlicher Rundfunk und Fernsehen haben einen "Bildungsauftrag", der massiv dahingehend eingeklagt werden könnte, dass Autisten ihre Meinung verlautbaren können. Das muss nicht wie bei Nicole Schuster über persönliche Anwesenheit geschehen. http://www.mitmischen.de/index.php/Informativ/BundestagLive/site/AlleBeitraege/id/25043
Ich kann mir auch vorstellen, dass eine Bürgerstiftung gegründet http://www.stiftungen.org/index.php?&PHPSESSID=a4062ba8fd777c793233b008893b8fe2 würde, deren Vorstandssitzungen über Medien stattfänden usw.
Der Weg in die Öffentlichkeit ist hart, man wird angreifbar, man wird mißverstanden, man wird ausgelacht (damit kennen die meisten hier sich bestens aus;))... aber irgendwann wird man wahr genommen, man wird etwas bewegen, man wird "von sich Reden machen"...
Das klappt aber nur dann, wenn sich trotz aller Verschiedenheiten solidarisch zueinander verhalten wird!
Forthebeautyoftheearth
22.01.10, 23:50:54
blue_eye
@feder
Vielen Dank für deine Antwort.
Dummerweise werden manchmal nach der ersten Antwort weitere Diskussionen in Gang gesetzt, die mit der ursprünglichen Frage direkt leider fast nichts mehr zu tun haben.
Das beobachte ich seit längerem bei so manchen Threads.
Schade.
23.01.10, 11:39:30
55555
Ich denke schon, daß es für manche Leute so eine Art modischer Trend ist sich damit auseinanderzusetzen und es Autismus nennt. Diesen Begriff kann man einerseits als Abgrenzung und ausgrenzend verstehen. Andererseits ist er auch gut um ähnliche Menschen zu finden und festzustellen, daß man nicht als Mensch irgendwie anders ist, sondern zu einem seltenen menschlichen Archetyp gehört. Dies war für viele Autisten in den Foren offenbar sehr wichtig, oft wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse im Leben überhaupt. Dies ist u.a. möglich indem ein Begriff existiert unter welchem man sich finden kann.
23.01.10, 14:15:10
Fundevogel
blue_eye: Bitte verzeih, wenn ich zu sehr abgeschweift bin. Ich bin weder Nichtautist noch Autist, wie sie im Forum wahrgenommen und beschrieben werden, oder vielleicht doch beides?;) Ich kann wie du mit den Zuordnungen nichts anfangen und empfinde sie eher ehrabschneidend.
Ich kann mein Leben auf die eigenen Bedürfnisse aber nur ausrichten, solange ich so gesund bin, dass ich Arbeitsbedingungen erfüllen kann und nicht auf wesentliche Hilfe angewiesen ist. Sobald Geld, Therapien, behördliche Zuweisungen erforderlich sind, geht nur ganz selten was ohne Befund und Schublade. Wenn "Autismus" als "Trend" erkannt und von einer breiten Öffentlichkeit respektiert würde, könnte sich zumindestens - wenn ich Vergleiche bei anderen Trends anstelle - etwas an den gesellschaftlichen Bedingungen ändern.
Forthebeautyoftheearth
23.01.10, 14:18:07
blue_eye
geändert von: blue_eye - 23.01.10, 14:29:06
... oft wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse im Leben überhaupt. Dies ist u.a. möglich indem ein Begriff existiert unter welchem man sich finden kann.
Für Autisten, die über sich nachdenken und sich dort zu Hause und verstanden fühlen, wo andere As gedanklich schon angekommen sind, ist das klar.
Wer über sein 'ich' jedoch nicht weiter nachdenken will, kommt natürlich hier auch nicht an und fühlt sich auch nicht zugehörig, obwohl er schon sein Leben lang im direkten Umgang mit anderen merkt, dass er anders ist und immer wieder Probleme hat (z.B. falsch verstanden, macht alles falsch und anderes -> s. mein Startposting)
Er findet andere Nieschen, hier im Internet, themen- bzw. projektbezogen, in denen er auf Menschen trifft, mit denen er sich dann gut versteht und sachlich austauschen und arbeiten kann. Das wird dann 'seine Welt', hat absolute Priorität, ist zufriedenstellend und ein Ausgleich für den überanstrengenden Tagesablauf im Job.
Nachdenken, wie ihr hier, muss, kann oder will man dann nicht. Ist zu anstrengend.
Der Tag geht vorbei und morgen klingelt der Wecker wieder ...
Mehr geht nicht.
Jeder Denkanstoß in Richtung A von außen verläuft somit im Sande.
Wenn in dieser Niesche eine Freundschaft aus irgendwelchen Gründen zerbricht, bricht die Welt zusammen. Tagelanger Rückzug...absolute Unerreichbarkeit.
Mittlerweile sind mir diese Zusammenhänge einigermaßen klar.
Ich denke es ist für eure Enthinderungsidee von Nachteil, dass es evtl. sehr viele Autisten gibt, die nicht gewillt oder fähig sind, über sich nachzudenken und somit euren Kreis kleiner halten, als er wirklich ist.
@Fundevogel
habe verstanden. Die Situation ist vielleicht ähnlich wie gerade beschrieben. Aber du bist wenigstens hier angekommen.
Mit 'Trend' meinte ich, dass es der ein oder andere womöglich schick in dieser intelligenten Schublade findet und sich damit alle Ungereimtheiten seines Lebens somit locker erklärt. Das wäre doch wohl zu einfach. Evtl. könnte ich mich dann auch einsortieren.
23.01.10, 14:55:20
haggard
@blue_eye:
ich weiß nicht, was "schick" bedeutet in bezug auf autismus. was leute daran "schick" finden, ist mitunter, eine asperger-diagnose zu erhalten, wenn dieses lediglich auf gleichzeitige hochbegabung oder was auch immer für sie intelligenz darstellt, beschränkt wird. sich vielleicht wie in einem geheimen club zu fühlen. ich weiß es nicht.
ob diejenigen mit kanner-diagnose auch so auftreten? "seht her, wir sind so intelligent", "wir sind so besonders", "wir sind die besseren menschen", "wir besitzen grandiose fähigkeiten, die sonst 'niemand' hat"?
wieviele foren existieren, in denen es deutliche gruppen von kanner-autisten gibt? kennst du welche?
die diagnostiker haben autisten in nicht intelligent und intelligent geteilt. ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemand "schick" findet, "nicht intelligent" zu sein. hinzu kommt, dass kanner-autisten extremst pathologisiert und diskriminiert werden. asperger-autisten werden zwar neuerdings auch dorthin geschoben, doch in der erwachsenenwelt ist das noch nicht vorgedrungen. heute veröffentlichen "viele" asperger-diagnostizierte bücher über ihr leben. häufig wird in ihnen deutlich, dass sie ihre diagnose erst spät erhielten, weil sie wahrscheinlich anders kompensieren konnten und fähigkeiten besaßen, die nicht besonders auffällig waren, oder mit denen sie unbehelligt blieben. auch erschienen bücher von kanner-diagnostizierten. ein teil wurde erstellt von menschen mit gestützter kommunikation, die gänzlich in frage gestellt werden, ob es ihre höchsteigenen produkte sind und nicht die ihrer eltern oder sonstigen bezugspersonen - und die anderen wurden definitiv von den eltern erstellt, die den kampf gegen "den" autismus darstellen. die einen werden irgendwie als "schillernde" persönlichkeiten dargestellt, die anderen als kräftezehrende, super-anstrengende "bekloppte", die nur durch maximalste anstrengungen fremder dazu bewegt werden könnten, nicht so "bekloppt" zu agieren.
diese ausführungen "erkennen" eventuell menschen, die bereits in der materie "autismus" drin sind.
menschen, die sich noch nicht tiefer damit befasst haben, können nach recherche vielleicht nur feststellen: steht im ICD 10, ist eine "krankheit" im kapitel "psychisches" - und gelangen womöglich zu der schlussfolgerung "ich bin nicht krank", "ich habe kein psychisches problem"; "oh mein gott, wie furchtbar" - vielleicht auch "könnte sein". doch ich bezweifele ganz stark, dass jemand dabei ist, der das an diesem punkt bereits "schick" findet, wenn er unbedarft darüber informiert wird.
andere möglichkeiten nicht ausgeschlossen.
23.01.10, 14:57:03
55555
Nach meiner Erfahrung hier bieten diese Nischen in vielen Fällen nicht annähernd das, was der Kontakt zu anderen ähnlichen Menschen bringt, indem man einen Schlüssel findet der diesen Archetyp in hoher Detailschärfe beschreibt- So wird rein begrifflich gesehen mitunter aus tausendfacher Anderartigkeit (weil ohne diesen Schlüsselbegriff viele Zusammenhänge nicht gezogen werden) eine einzige. Das kann eben dann eine riesige Erleichterung sein, doch irgendwo zuzugehören und menschlich irgendwo richtig zu sein.